Kreatives Schreiben

Über den Tellerrand hinaus schreiben: Die Magie des Food Writing

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Geschrieben von Gastbeitrag

Was ist Food Writing?

Wie kannst du ins Food Writing einsteigen?

Wo findest du Inspiration fürs Food Writing?

Auf „Treffpunkt Schreiben“ wollen wir zeigen, wie vielfältig das Thema „Schreiben“ sein kann. Daher sind eine zusätzliche Perspektive, unterschiedliche Erfahrungsschätze und neues Expert*innen-Know-how herzlich willkommen 🙂 !

Wir freuen uns, über den Gastbeitrag von Mag.Gabriele Weissenegger, M.A. zum Thema Food Writing und wünschen dir viel Spaß beim Lesen.  

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Ein Stück warme, geschmolzene Schokolade trifft die Zungenspitze.

Ein Kipferl wird in den Kaffee getaucht.

Aus der Küche duftet es nach frisch gepflückten Orangen.

Wir alle müssen essen. Essen kann sinnlich, kommunikativ und freudebringend sein– aber auch hochpolitisch, schwierig, konfliktbeladen.

Geschichten rund ums Essen

Jeder bringt auch seine eigene Geschichte zum Thema essen mit, deshalb hat sich in den letzten Jahren das so genannte Food Writing als eigenes Subgenre im Sachbuch, im Journalismus und dem immer populärer werdenden Memoir-Genre foodoir etabliert. So bezeichnet man ein Memoir, welches Essen als leitendes Element hat; beispielsweise eine Familiengeschichte, die anhand von Rezepten aufgebaut ist wie Taste* von Stanley Tucci. Auch im Bereich des Romans finden wir Beispiele von Food Writing, bei denen die Handlung an Rezepten oder Handlungen in der Küche andockt: Chocolat* von Joanne Harris oder Bittersüße Schokolade von Laura Esquivel, um zwei schokoladige Beispiele zu nennen. 

Aber was genau ist Food Writing nun eigentlich?

Ähnlich wie Travel Writing oder das Nature Writing ist Food Writing eine spezifische Form des Schreibens, die sich um ein bestimmtes Thema  dreht. Gleichzeitig geht es eine Schicht tiefer noch um etwas anderes:

Es geht nicht nur um die Beschreibung von Aromen und Texturen, sondern auch um die Reflexion persönlicher Erinnerungen, kultureller Traditionen und sozialer Bedeutungen, die mit dem Essen verbunden sind.

Gelesen werden kann ein guter Food-Writing-Text, genau wie ein überzeugender Reisebericht, auf mehreren Ebenen: Ich kann Rezepte genießen und einen Versuch starten, sie nachzukochen. Oder ich tauche in die andere, in die zweite Ebene ein. Denn dahinter und rundherum laufen, sichtbar oder unsichtbar, ganz viele Prozesse ab: Zuneigung, Angeberei, Trauer und Krisenbewältigung, Liebe, Hass und Rache. Jemand wird gerettet, ein anderer vergiftet, wieder jemand anderer verliebt sich durch eine magische Zutat unsterblich.

An welche Speise erinnerst du dich – mit Liebe oder mit Schrecken?

Essen spricht alle fünf Sinne an und hat damit das Potenzial, uns sofort in individuelle oder kollektive Erinnerungen zu transportieren. Ob als eigenständiges Genre oder als Element in anderen Textformen – das Food Writing kann uns dazu bringen, Essen auf eine ganz neue Art und Weise wahrzunehmen und zu schätzen.

Food Writing ermöglicht uns, Erinnerungen zu wecken, Emotionen zu teilen und die vielschichtige Bedeutung des Essens zu erkunden. Wir tauchen mit unseren Leser*innen in eine gemeinsame Welt des Genusses und der Bedeutung ein.

Die politische und gesellschaftliche Dimension des Essens

Essen hat aber auch eine gesellschaftliche und politische Dimension. Das hatte es immer schon. Doch in Zeiten, in denen Luxus in Form von Kleidung oder anderen Statussymbolen immer erreichbarer wird, (und sei es auch durch Ratenzahlungen und Verschuldungen), hält Essen nach wie vor den Rang eines Statusmarkers.

Dass auch ein unscheinbares Glas Rotwein politisch sein kann, zeigt seit vielen Jahren die immer wieder aufkochende Debatte um Österreichs beliebteste Rotweinsorte Zweigelt – benannt nach Professor Friedrich Zweigelt, Rebenzüchter, Leiter der Klosterneuburger Weinbauschule und Zeit seines Lebens begeisterter Anhänger der nationalsozialistischen Ideologie.

Viele der Texte, die ich aus diesem Genre gelesen habe, sind Hybride, weben Rezepte und Restaurantkritiken in das Geflecht des Romans oder des Memoirs. Food Writing ist für mich schon lange ein vielseitiges, spannendes und höchst vergnügliches Thema.

Wie kannst du selbst ins Food Writing einsteigen?

Meine Empfehlung: Beginne bei dir selbst. Bei deinen Erinnerungen rund ums Essen.

1) Woran erinnerst du dich? An welche Geschmäcker, Gerüche und Texturen von Nahrungsmitteln?

Sammle sie in Form

  • einer Liste,
  • eines seriellen Schreibens „Ich erinnere mich …“ Ich erinnere mich …“ „Ich erinnere mich“ ….
  • oder eines Clusterings

2) Schau dir deine Notizen in Ruhe an. Dann verfasse einen oder mehrere Kurztexte:

  • Worum ging es hier noch?
  • Welche tiefere Bedeutung hatte das Essen in dieser Situation?

Wie bei allen Genres, die du interessant findest, würde ich dir auch empfehlen: Lies möglichst viele Beispiele für Food Writing. Nicht, um den Autor oder die Autorin zu imitieren, sondern um einen Eindruck zu gewinnen, wie vielschichtig das Thema ist und wie nah, wie persönlich und alltäglich der Einstieg sein kann.

Wo findest du Inspiration fürs Food Writing?

Ein schönes Beispiel ist diese Szene aus dem Memoir Crying in H Mart*/Tränen im Asia-Markt* der koreanisch-amerikanischen Autorin Michelle Zauner*. In diesem schreibt die Autorin über ihren ganz persönlichen Trauerprozess nach dem Tod ihrer Mutter, die professionell und detailgetreu koreanisch kochte. Auf einer tieferen Ebene drückte die sonst so strenge Mutter, die bei einem verletzten Kinderknie schimpfte anstatt zu trösten, dadurch ihre Liebe aus. Folglich ist auch nicht ein Friedhof der Ort, an dem die Tochter trauert, sondern der titelgebende koreanische H Mart.

Neben deinen Erinnerungen sind deine Emotionen zum Thema Essen ein guter Anhaltspunkt. Was macht dich glücklich? Was macht dich traurig, wütend, nachdenklich? Wie immer beim Schreiben gilt: Jede Emotion ist gut, nur Gleichgültigkeit ist ein schlechter Schreibanlass.

Ebenfalls dem Food Writing zuzuordnen und für mich unvergesslich: Die großartigen und humorvollen Memoiren von Ruth Reichl*, Schriftstellerin, Köchin und Herausgeberin von diversen Magazinen. Viele Jahre war sie Restaurantkritikerin, zuerst bei der Los Angeles Times, dann, ab Mitte der 1990er-Jahre, bei der prestigeträchtigen New York Times. Von dieser Zeit handelt auch eines ihrer vielen Foodoirs, Garlic and Sapphires*.

Der oberste Restaurantkritiker oder die oberste Restaurantkritikerin der New York Times, so stellt Reichl schon im Flugzeug von L.A. nach New York fest, ist so gefürchtet, dass alle Nobelrestaurants jeweils ein Bild vom ihm/ihr in der Küche stehen haben, um ihn/sie sofort erkennen zu können. Mitarbeiter*innen, die ihn/sie rechtzeitig erkennen, bekommen in der Regel auch eine hohe Belohnung – quasi kulinarisches Kopfgeld.

Gemeinsam mit Claudia, einer Make-up-Künstlerin und Freundin ihrer kürzlich verstorbenen Mutter, macht Ruth Reichl sich auf Entdeckungsreise durch das kulinarische New York. Sie verfolgt beispielsweise auf gut Glück heimlich eine elegante Japanerin, die sie unwissend zu einem versteckten japanischen Gourmettempel führt. Und sie lässt sich von Claudia auf verschiedenste Arten aufwendig umstylen, um in den Toplokalen nicht sofort als sie selbst erkannt zu werden. Schnell erkennt sie: Wie gut ein Restaurant ist, hängt vor allem davon ab, wer man ist. Die gefürchtete Gastrokritikerin der New York Times, die als sie selbst ins Nobellokal spaziert, wird anders behandelt als die „unscheinbare ältere Dame vom Land“.

Und: Mit ihren vielen Verkleidungen ändert sich jeweils nicht nur Reichls Verhalten, sondern auch ihr kulinarischer Geschmack. Nicht zuletzt ist das Buch eine Zeitkapsel: In eine Zeit, in der man am Times Square noch um sich schauen und die Handtasche festhalten musste, und es (heute kaum vorstellbar) für die Restaurantkritik nur gehobene Steakrestaurants und französische Haute Cuisine gab – alles andere war nicht der Rede wert. Mit Ethnoküchen in Chinatown oder Koreatown hatte sich vor Ruth Reichl noch niemand befasst. Auch diese ungeschriebene Regel hat sie gebrochen.

Food Writing eröffnet uns eine Welt voller Geschichten, die auf unseren Tellern beginnen und weit darüber hinausgehen.

Mag.Gabriele Weissenegger, M.A.

Ist selbstständige Trainerin für Creative Writing und Memoir Writing sowie Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und Autorin von Kurzgeschichten und Artikeln. Sie studierte Literaturwissenschaft und Deutsch als Fremd- und Zweitsprache und war schon immer Foodie, leidenschaftliche Köchin und Weinliebhaberin.

Ihre erste Diplomarbeit handelte vom Thema Essen und Identität in der Literatur. Sie besuchte über Jahre hinweg viele Kurse der Weinakademie Wien und einen Food-Writing-Workshop beim Gotham Writers Workshop. Im Winter 2022 hat sie ihren Kurzmemoir-Text Hungergedächtnis in der österreichischen Literaturzeitschrift litrobona veröffentlicht.

Der nächste Workshop zum Thema Food Writing findet am 29. und 30. September 2023 in 1040 Wien statt: https://anaznidar.com/food-writing/

Magst du deine Erfahrungen mit Food Writing und/oder ergänzende Buchtipps zu diesem Genre mit uns teilen?

Wir freuen uns, über deinen Kommentar 🙂!

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Bildquellen: Bilder Canva Treffpunkt Schreiben, Buchcover thalia.at, Fotocredit Alfred Weissenegger 

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10 Kommentare

  • Ich liebe das Buch “Damaskus – Der Geschmack einer Stadt”. Rafik Shami hat seine Kindheit in Damaskus verbracht und lebt heute in Deutschland. Seine Schwester Marie Fadel lebt noch immer in Damaskus. Sie nehmen ihre LeserInnen mit auf den Gewürzmarkt in Damaskus und lassen sie die Stimmen der Verkäufer hören, die ihre Waren mit Rufen und Singsang anpreisen. Der Geruch von Kardamom und Koriander steigt bei der Lektüre in die Nase und wir hören die Geschichten der Kaffeehauserzähler. Ich habe schon einige der abgedruckten Rezepte nachgekocht. Eine Einladung in die Welt von Tausendundeinernacht.

  • Tolle Idee. Wobei ich das Schreiben über Aromen, Texturen und die Nutzung aller Sinnesorgane auch schon als sehr vielschichtig sehe. Die Idee, Herkunft, soziologische und geschichtliche Hintergründe einzubinden werde ich nun mal in einem Text ausprobieren. Spontan könnte ich mir vorstellen, daraus eine neue Kategorie zu entwickeln.
    DANKE!

  • Ein sehr interessanter Beitrag! Ich habe, obwohl ich mich noch nicht speziell mit Foodwriting auseinandergesetzt habe, in meinem Roman sehr viel davon verwendet. Im Roman “Küss du statt mir die Kinder”, eine Romanbiografie geht es sehr oft ums Essen und vorallem um den Mangel an Essen, wie es beschafft werden kann und wie gut “Moosbeernocken = Schwarzbeernocken schmecken, wenn es auch sonst nichts mehr gibt. Ein Glas Milch etwas ganz besonderes ist.

    • Vielen Dank für dein Feedback, liebe Hanna! Ja, es ist enorm faszinierend, wie viele verschiedene Zugänge man übers Essen finden kann und wie stark all unsere (Lebens-)Geschichten damit verknüpft sind!

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