Kreatives Schreiben

Märchen schreiben – (d)eine Schatztruhe

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Geschrieben von Gastbeitrag

Auf „Treffpunkt Schreiben“ wollen wir zeigen, wie vielfältig das Thema „Schreiben“ sein kann. Daher sind eine zusätzliche Perspektive, unterschiedliche Erfahrungsschätze und neues Expert*innen-Know-how herzlich willkommen 🙂

Wir freuen uns daher sehr, über diesen Gastbeitrag von Sigrid Varduhn.

Viel Freude beim Lesen.  

Märchen schreiben, eine Schatztruhe, Treffpunkt Schreiben

Ein Kater hilft seinem Herrn in der Not und wird zum König des Landes, weil die Prinzessin lieber ihn als den Müllersohn an ihrer Seite hat. Ein Mädchen mit sehr langen Zöpfen schneidet sich diese ab, klettert daran vom Turm hinunter und macht sich auf ihren Weg in die Welt. Einem verzauberten Prinzen gefällt es als Frosch gar nicht so schlecht und er beschließt, die goldene Kugel selbst zu behalten.

Diese ganz kurzen Ideen erinnern dich an Märchen, die du kennst? Aber ja! 

Märchen können aus Märchen entstehen

Das ist die eine Seite des Märchenschreibens: Märchen können aus Märchen entstehen. Du kannst dich inspirieren und anstecken lassen von Märchen, die es schon gibt, sie weiterschreiben, sie „auf links drehen“. So kann aus der schönen Prinzessin mit dem furchtbaren Drachen ein schöner Drachen mit einer furchtbaren Prinzessin werden – sofern in deiner Geschichte überhaupt Prinzessinnen vorkommen sollen. Denn: Auch das muss nicht sein.

Oder: Einfach neue Märchen schreiben

Die andere Seite des Märchenschreibens: Einfach neue Märchen schreiben. Solche, die in Märchenwelten verortet sind, von Märchenfiguren und ihren Helfern und Zaubergegenständen handeln, mit Märchenformeln arbeiten oder sich am typischen Aufbau von Märchen orientieren.

Märchen als Schatztruhe

Märchen sind Ur-Geschichten. Märchen zeigen uns, wie Geschichten funktionieren können, in einer einfachen – oder auch komplexeren – Form.

Die Märchen, die du im Laufe deines Lebens – vielleicht schon als Kind – gehört oder gelesen hast, sind Schätze, von denen du dich beim Schreiben inspirieren lassen kannst. Und in der Beschäftigung mit Märchen aus aller Welt kann sich deine Schatztruhe weiter füllen. 

Märchen sind eine Inspirationsquelle, die in uns drinsteckt, egal ob wir viel oder wenig von einem Märchen erinnern.

Was aus dem Märchen kommt, bleibt nicht unbedingt in der Märchenform: Ob Menschen, die im Berg verschwinden, geheimnisvolle Tiergestalten oder Spiegel, die mehr zeigen als die Realität, Märchen und Sagen stecken auch in Romanen, Theaterstücken und Filmen und haben Kunstschaffende schon immer inspiriert.  

Eines meiner Lieblingsmärchenbücher ist dick und blau und heißt „Die Märchen der Dichter“. Dort sind „Kunstmärchen“ aus dem 13. bis zum 20. Jahrhundert versammelt. Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie George Sand, Leo Tolstoi, Elsa Morante, Stefan Zweig, Vladimir Nabokov, Jane Yolen und viele andere haben Märchen geschrieben. Wie wunderbar, dass es auch solche erdichteten Märchen gibt. Das Buch „Im Reich der Wünsche. Die schönsten Märchen deutscher Dichterinnen“, herausgegeben von der Märchenforscherin Shawn C. Jarvis, habe ich erst kürzlich entdeckt. Darüber habe ich noch mehr Märchendichterinnen kennengelernt – von Katharina der Großen bis Ricarda Huch.

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Magst du nicht auch eine Märchendichterin sein?

1-2-3 – ins Märchenschreiben schnell hineinkommen

Eine Familie ist in Not. Die Jüngste macht sich auf den Weg. Sie kehrt heim mit einem Schatz und die Familie lebt zufrieden für immer. 1, 2, 3 – so einfach lässt sich ein Märchen schreiben. Als Ur-Geschichten haben Märchen eine relativ einfache Grundstruktur, die aus diesen drei Schritten besteht:

1. Einleitung: Mangel, Not, Konflikt, Verwünschung oder Bosheit durch einen anderen
2. Weg, Suche: Proben, Aufgaben, Kämpfe, Hilfestellung und/oder Zaubermittel
3. Lösung, Rettung, Ende: Schatz, Hochzeit, Krönung, Einsicht, gegebenenfalls Strafe für die Bösen

Die einfache Struktur bedeutet übrigens nicht, dass Märchen immer geradlinig verlaufen müssen. Für die Lesenden zeichnet sich die Lösung deines Märchens schon ab, sie haben das Ende schon im Blick? Von wegen! Denn du hast deiner Heldin oder deinem Helden doch noch Herausforderungen aus einer ganz anderen Ecke zu bestehen gegeben. So kann zusätzliche Spannung entstehen.

Der übersichtliche Aufbau von Märchen passt allerdings auch gut dafür, sich von den ersten Zeilen eines Märchens inspirieren zu lassen und es weiterzuschreiben. Am besten geht das mit einem unvertrauten Märchen, bei dem du dich ganz darauf einlassen kannst, deinen eigenen Weg und deine eigene Lösung für das „Anfangsproblem“ zu finden.

Tipp:

Schau in deinem „Märchenbuchregal“ oder in der Bibliothek oder im Internet nach einem dir unbekannten Märchen, dessen erste Sätze dich ansprechen. Schreib die ersten Sätze oder den ersten Absatz ab und lass dann dein eigenes Märchen daraus wachsen.

Alles erlaubt im Märchen

Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder.“ So ein ganz knapper Einstieg kann im Märchen „genügen“, um uns die Ausgangssituation zu vermitteln. In traditionellen Märchen haben Prinzessinnen oder Könige oder das weitere „Personal“ nicht sehr oft Namen und sie entwickeln auch nicht unbedingt eigene Charakterzüge. Die Figuren kommen wie Schablonen daher und „dürfen“ damit das, was beim Schreiben von Geschichten sonst durchaus kritisch betrachtet wird: Flach bleiben und trotzdem als Identifikationsfigur funktionieren. Im Märchen müssen Figuren nicht besonders oder unaustauschbar sein. Sie können gerade durch ihren übertragbaren Charakter funktionieren und wir als Lesende verstehen sie und ihre Wünsche aus ihrer Rolle heraus.

Was Märchen dürfen:

  • Tell don´t show: Im Märchen gilt das für Figuren genauso wie für Schauplätze: Behaupten erlaubt. Da darf es stolze Schlösser, edle Prinzessinnen und furchtbare Drachen geben, ohne dass wir dazu weiter ins Detail gehen.
  • Unerklärte Magie: Magie ist im Märchen normal. Tiere können plötzlich sprechen, Gegenstände werden lebendig, Wunder geschehen einfach so? Das ist alles möglich und bedarf auch keiner weiteren Erklärung.
  • Formeln erlaubt: Formeln, Verse, Zaubersprüche – auch sie machen den besonderen Sprachschatz des Märchens aus. Ob „Es war einmal … “ als Einstieg für dein Märchen gut passt oder du eigene Formeln entwickelst, das liegt ganz bei dir.
Märchen schreiben: Was Märchen dürfen, Treffpunkt Schreiben

Dass die Figuren am Anfang eines Märchens nur mit einem Wort benannt werden, heißt allerdings nicht, dass sie „flach“ bleiben müssen. Die Entwicklung, die Wandlung im Märchen beginnt mit dem zweiten Schritt, wenn der Held oder die Heldin sich auf den Weg machen. Sie gewinnen an Komplexität, Vielschichtigkeit und Tiefe mit der Bewältigung der Aufgaben, denen sie sich (mitunter auch eher widerwillig) stellen. 

Mit Gegenteilen, Perspektiven und Schauplätzen spielen

Und die vertrauten Eigenarten – oder „Klischees“ – machen es uns als Schreibende auch leicht, mit den Gegenteilen zu spielen – wenn wir das möchten. Ein König, der nicht (mehr) regieren will. Die Prinzessin, die den Drachen bekämpft. Oder auch ein Drache, der sich aufmacht, um die Prinzessin zu befreien. Nichts leichter als das. Und: Alles ist möglich. Weil es die klare Charakterisierung gibt, können wir sie mit wenig Aufwand ins Gegenteil verkehren. Gerade weil mit einem Wort alles über die Figuren gesagt zu sein scheint, lässt es sich mit ihnen spielen.

Der Rolle des Prinzen kommt in einem Märchen aus deiner Sicht viel zu viel Bedeutung zu? Dann lässt sich das Märchen zum Beispiel aus der Perspektive der Köchin erzählen. Bei einem vertrauten Märchen hat dir das Ende eigentlich nie so richtig gefallen? Dann liegt es in deiner Hand, ein neues zu finden.

Auch die Schauplätze lassen sich variieren: Ein Schloss mit Zinnen, Turmzimmern und Wassergraben? Das geht als Schauplatz deines Märchens. Ein alter Weidenbaum an einem Bach? Warum nicht? Und eine überfüllte Autobahn an einem Sommerwochenende im Stau? Das könnte auch ein Märchenschauplatz sein. Es geht „klassisch“ oder auch nicht – je nachdem, wo es deine Figuren und dich hinzieht.

Märchen können vieles sein

Märchen können Literatur werden. Wir können sie als Geschenk für uns oder jemand anderes schreiben. Und sie können uns ein Spiegel sein. Wenn wir uns mit Märchen beschäftigen oder neue schreiben, berührt das in seiner Tiefe oft die Themen, die uns wichtig sind. Wenn wir über die Not, den Weg, die Aufgaben der Märchenfiguren schreiben, kann es sein, dass wir auch über das schreiben, wovon wir träumen, was uns beschäftigt, was wir uns wünschen.

Und so kann sich auch die Rolle der Märchen in unserem Leben immer einmal wieder verändern oder erweitern – und die Art, wie wir sie sehen, hören, erzählen und schreiben. Wer weiß, was du alles entdeckst über die Welt und dich beim Märchenschreiben.

Sigrid Varduhn, Erzählschreiben, Märchen schreiben

Sigrid Varduhn ist Poesiepädagogin, Autorin und Erzählerin und stiftet in Schreibwerkstätten und Schreibkursen zum Märchenschreiben an: Sigrid Varduhn. Autorin. Schreibcoach. Erzählerin.

Veronikas Erfahrungsbericht zu Sigrids toller Online-Schreibwerkstatt “Flash Fiction – Kürzestgeschichten” findest du übrigens hier.

Buchtipps

Märchenquellen im Internet:

Bist du ein Märchen-Fan? 🧚👸🦄🔮🐺

Hast du vielleicht schon selbst ein Märchen verfasst? 

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Bildquellen: Canva, Sigrid Varduhn (Portrait) 

5 Kommentare

    • Liebe Maike, herzlichen Dank für deine Tipps zum Thema :-). Die modernen Märchen klingen nach viel Lesespaß. Die muss ich mir auf jeden Fall mal anschauen. LG Veronika

  • Liebe Sonja und liebe Veronika,
    ich freue mich sehr über diesen Blogbeitrag, da ich Märchen liebe. So richtig. Ich sammle Märchenbücher aus aller Welt und hüte sie wie einen Schatz. Und, ich fand es schon immer spannend, wie unterschiedlich ein Märchen erzählt wird oder werden kann, innerhalb einer Kultur, aber auch wie es kulturübergreifend ähnliche Inhalte gibt. Daher finde ich die Idee, ein Märchen nach eigenen Ideen abzuwandeln so richtig gut. Es ist ja doch so, dass Märchen oftmals weniger gut für kleinere Kinder geeignet sind, insoweit passe ich die Inhalte oft schon für meine Kinder an (mildere sie ab). Jetzt werde ich einmal euren Weg gehen. Wer weiß, vielleicht schläft Rapunzel ja beim Haar herablassen ein und wohnt im einbeinigen Haus von Baba Jana, woraus sie nur mit den Siebenmeilen Stiefeln entkommen kann. 😂
    Sonnige Grüße aus dem Stuttgarter Kessel
    Shireen

    • Liebe Shireen,

      vielen Dank für deine herzlichen Zeilen zu Sigrids Märchenbeitrag.

      Beim Lesen des Kommentars spüre ich deine große Liebe zu Märchen 🙂
      Deine Abwandlungsideen mag ich sehr – ich sehe Rapunzel bereits schlafend vor mir – welch schöne Idee!

      Viel Spaß beim Märchen schreiben und beim Entdecken deiner persönlichen Schatztruhe.

      Alles Liebe
      Sonja & Veronika

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